Vroni Kiefer
Fuchsi
Fuchsi

Fuchsi

Die Kurzversion dieses Texts gewann den 3. Preis beim Prosawettbewerb „Goldstaub“ der Autorinnenvereinigung 2020

Du musst so weich gewesen sein. Dein heute stumpf sandfarbenes Fell leuchtete sicher in schönstem Dünenrotgold, und von der unteren Schnauze über den Hals bis zu den Beinen zog sich ein schneeweißer Bauch und nicht das, was man jetzt vornehm wohl Écru nennen müsste. Der Kopf saß fest auf dem Hals, und fraglos sah der Schwanz noch nicht aus, als hätte sich eine Flunder in deinem Hinterteil verbissen. 

Du hättest alles sein können, ein Hase, ein Äffchen, ein Otter oder mit höchster Wahrscheinlichkeit ein Bär. Nun warst du eben ein Fuchs, und warst da vom ersten Tag an.

Sie hatten dich dabei, als Notnagel, als Vorsichtsmaßnahme. Wie überzeugt man eine Anderthalbjährige mitzugehen, wenn sie nicht will? Die Methoden wohlmeinender Menschen unterscheiden sich da nicht wesentlich von denen mit niederen Zielen.

Doch du erinnerst dich vielleicht, dass es keiner Überredung bedurfte. Habe ich dich bewusst wahrgenommen damals, mit dem Maß an Bewusstsein, das mir zu jenem Zeitpunkt zueigen war? Ich vermute, ich war zu beschäftigt, meinen Schnuller dem neuen Babba in den Mund schieben zu wollen, meine bis dahin angelegte Existenz zusammen mit dem bis dahin geltenden Namen zurückzulassen. In dieser ersten deutlichen Erinnerung kommst du nicht vor, ich weiß nur, dass du dabei warst, denn auch ohne mein Erinnern du hast dich eingeschrieben in diesen Moment meiner Lebensgeschichte.

Du warst nämlich das erste, was in dieser neuen Existenz nur mir gehörte. Etwas selbstverständlich Stolzes hattest du an dir und naturgemäß feine Züge, während eine hinterhältige Schläue, die mit Füchsen häufig assoziiert wird, deinem Gesicht völlig abging.

Durch die unabänderlich seitlich weggestreckten Arme schien es einerseits, als würdest du ständig Distanz zu allem nehmen und sagen: „Also bitte, Welt, wirklich?“, doch andererseits waren sie für mich und nur für mich eine ständige Einladung zur Umarmung.

So wurdest du also mein Vertrauter, im kindlichen Gedächtnis sofort als Begleiter noch aus der anderen Welt verankert, auch wenn das gar nicht so war.

Das unbekannte neue Leben war ein enges Geflecht, sehr viel überschaubarer zwar als das zuvor, aber nicht weniger komplex; plötzlich gab es nicht mehr das „Nest“, die „Mutter“ und alle anderen Kinder, außerdem noch eine weitere Mutter und auch einen Vater, die hin und wieder erschienen. Es gab nun Mama und Babba, zwei große Brüder und eine Rolle als Nesthäkchen gratis. 

Es dauerte seine Zeit, bis für das Kind überhaupt sicher schien, dass die Situation grundsätzlich anders war und blieb. Was in der ersten Zeit, in der ich kein Wort sprach, in mir vorgegangen sein mag, ist reine Spekulation. Schon beim Friseur, der ersten Station auf der Reise in mein neues Zuhause, saß ich, so die Erzählung, mit aufgerissenen Augen, aus denen unablässig Tränen flossen, aber alles ohne einen Laut. Vielleicht habe ich dir nachts meine Beobachtungen ins Fell gemurmelt, leise, damit der neue Bruder im Zimmer nichts davon hört? 

Als ich dann anfing mich zu äußern, und das zum Erstaunen meiner neuen Familie in ganzen Sätzen, waren es noch Worte aus der alten Welt. „Pia obi!“1 hieß es, wenn ich aus dem Hochstuhl gehoben werden wollte. Wenn eine Situation mir nicht koscher war, blickte ich finster und stieß ein „Dös sog i da Mutta!“2 hervor.

Und doch, mit dem Perlonkleid, das Mama wegwarf, mit den Blasen, die sie einsalbte, mit den verfilzten Locken, die auf den Boden fielen, ließen wir beide, du und ich, Pia in ihrem Keller zurück mit den seltsamen, dunklen Träumen, mit dem unbestimmt bedrohlichen Gefühl, das sie empfand und gingen strahlend in ein Leben als Vroni, der Sonnenschein. 

Du warst und bliebst bei mir. 

Als ich meinem einen Bruder übermütig ein kleines Stück aus dem Hintern biss und dafür gleich anschließend die Ukulele auf meinem Hintern zersprang, das erste, was meinem Vater in die Hände kam. Du sahst es, ließest dich nachher an mich pressen saugtest meine Tränen in deinem Fell auf. 

Als der Hund zurück ins Heim musste und ich dachte, ich müsste es dann wohl auch, wenn ich etwas falsch machte. Obwohl ich bestimmt nicht „wildern“ wollte! Was auch immer das war. Du hörtest es und ließest mich meine Fingerchen in dein Fleisch krallen ohne einen Mucks. 

Als ich glücklich war an so vielen Tagen, von der Straße, dem täglichen Versteckenspielen, dem ersten Begreifen zarter Freundschaft außer Atem zurückkam. Oder allein das Lesen lernte von der Buchstabentapete. Oder glaubte, Kraft meines innigsten Verlangens die Geschichten der Drei ??? Realität werden lassen und darin vorkommen zu können. Du spürtest es und ließest dir einen Kinderkuss auf die mit schwarzem Faden genähte Nase geben.

So nahmst du mein ganzes Leben in dich auf, auf dir der tausendfache Abdruck des immer gleichen Händepaares, nutztest dich ab anstelle meiner Seele, als hätten wir einen gütigen Dorian-Gray-Pakt. Und wirklich begann ich irgendwann aus deinen goldfarbenen Augen abzulesen, wie es mir selbst ging. Ihr Ausdruck schien stets anders und tatsächlich ein Fenster zur Seele, zu meiner eben. Einmal warf dich ein Freund mir sehr ungenau zu, es gab einen hellen Knall an der Heizung, und ein Auge war ab. Meine Mutter nähte ein neues Augenpaar an – und plötzlich hattest du grüne Augen. 

Sie konnte nicht ahnen, wie tief mich das befremdete. Mit diesen Augen trat nun doch etwas Verschlagenes in dein Gesicht, das ich bewusst ausblenden musste. Denn es zu sehen hätte bedeutet, es als eine Eigenschaft von mir anzunehmen. Unglücklicherweise waren die Augen jetzt deine Schwachstelle und hielten nicht mehr gut. Deshalb bekamst du ein paar Jahre später Augen in einem noch helleren, stechenden Grün mit Katzenpupillen. Spätestens jetzt gab mir jeder Blick in dein Gesicht das mulmige Gefühl, mit mir stimme etwas ganz gewaltig nicht. 

Ist es das, was Erwachsenwerden heißt? Plötzlich setzt man uns ein neues Augenpaar ein, und schon kann es losgehen mit dem Ernst des Lebens. Ich hatte mir früh geschworen, dass ich es nie dazu kommen lassen würde, meine Kindheit abzulegen wie einen alten Hut. Gelesen hatte ich es bei Pünktchen und Anton, hatte mich echauffiert, wie kann das sein, wie könnte ich all das, was ich schon erlebt habe, all diese Gedanken, all die Freude, das Leid, das unbändige Lebenwollen, wie könnte ich das vergessen? Ich bin doch jetzt ein ganzer Mensch, man kann doch keinen ganzen Menschen entsorgen und so tun als habe er nie existiert!

Ich war dem guten Kästner unendlich dankbar für diese Warnung, die sich in meinem Umfeld auch ein ums andere Mal bewahrheitete.  

Ich sah, wie Gleichaltrige um mich herum spätestens mit dreißig begannen, sich im Leben auf eine Art einzurichten, die sie sich als Kind niemals hätten vorstellen können – was nicht schlimm gewesen wäre, wenn sie nicht vollkommen überzeugt davon gewesen wären, dass sie es immer schon genau so gewollt hatten.

Ich hörte sie Sätze zu ihren Kindern oder über sie sagen, die wir als Kinder gehasst hatten. „Ich will, ich will, ich willIch will auch vieles!!“ – „Natürlich kann ich das sagen, das hat sie nicht mitbekommen.“ 

Ich las ihn ihren Augen die auf ein, zwei Sätze zusammengeschrumpften Erinnerungen an eine gesamte Kindheit und in ihren Social Media Accounts Aufforderungen, mich als Heldin zu fühlen, weil ich in einer verklärten Version der 70er aufgewachsen war, in denen – es wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre – alles besser gewesen war als heute.

Ich hielt innerlich immer dagegen und an meinem Vorsatz fest, bis heute.

Und doch … Fuchsi, mein Seelenspiegel der Kindheit, du sahst nicht so aus, wie ich sein wollte. Um zu entscheiden, ob das an mir lag oder nur an den falschen Augen, hätte mir all das bewusst sein müssen. Und wäre es mir bewusst geworden, hätte ich es bei aller Liebe zur Kindheit lächerlich gefunden, dagegen aktiv zu werden. Das Unbedingte eines, nicht nur meines, kindlichen Willens – ohne die Schnuffeldecke nicht schlafen können, aufbleiben, bis Papa wieder da ist, den lieben Gott dringendst um eine Vier in Deutsch bitten oder was es sein mag – war über die Jahre auch mir abhandengekommen.

So blieb mir nur langsame Verdrängung. Immer häufiger vermied ich den Blick in jenen Spiegel, vergaß schließlich den Spiegel, ließ ihn, dem Symbolglauben scheinbar entwachsen, am Ende zwischen den Kuscheltieren der eigenen Tochter ins Leere starren.

Ach Fuchsi, mein Fuchsi, wie konnte ich dich so verlöschen lassen! Es ist nicht deine Schuld, dass Erwachsene nur deformierte Kinder sind. 

Wenn ich in einen echten Spiegel schaue, blickt mir an den guten Tagen noch immer ein schöner Mensch entgegen, dem das Kind aus den Augen lacht. Wie wunderbar es wäre, wenn er dies zeigen könnte, damit der Tag gut wird …

Ich weiß jetzt, was ich tun werde! Nicht, weil ich die Spuren verwischen will, nicht weil ich verleugnen will, was war, sondern weil ich dir meinen Respekt bezeugen, es an dir wiedergutmachen will, dich wieder zu dem werden lassen will, der du eigentlich bist. 

Ich werde dich also zu einem Puppendoktor geben, deinen Schwanz wieder bauschig füllen, Fell und Bauch fachkundig reinigen lassen und dir vor allem deine goldfarbenen Augen wiedergeben. Sie sind das Wichtigste, der Schlüssel zu allem.

Ja, natürlich tue ich es nicht ohne Hintergedanken, das hast du an meinem fröhlichen Glucksen gemerkt, stimmt’s? In der Abwägung kommt ein Puppendoktor sehr viel günstiger als plastische Chirurgie. Ich kann nämlich jetzt schon spüren, wie ich schöner werde.

1“Pia herunter!“

2“Das sag ich der Mutter!“

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