Vroni Kiefer

So nah

So nah

Wir sitzen auf dem Sofa, lachen durcheinander, schauen uns ungläubig an. Wiederholen immer wieder: „What are the odds?!“ 50 Staaten, Tausende von Städten, es kann eigentlich nicht sein, es ist viel zu unwahrscheinlich.  

Ich sinke in mein Inneres, hebe die Zeit auf; schon in der nächsten Sekunde werde ich wieder in die Augen seiner Kinder schauen, 17 und 19 Jahre alt. Werde von den hypnotisch strahlenden der Tochter zu den träumerischen des Sohnes wechseln und wieder zurück. Werde ihm, der neben mir sitzt, noch nicht voll in die Augen sehen können, aber ihn knuffen, ihm zuhören und in Tränen ausbrechen. 

Doch zwischen dem letzten Glucksen 

und dem nächsten Aufschauen 

erblicke ich meinen 

finnischen See 

vor mir. 

Wann immer ich den Augenblick herausnehmen möchte aus den Zeitläuften, breitet er sich in mir aus, tief, still und nachtblau. Der See, auf den ich nach dem Studium zwei Wochen lang alleine blickte und an dem ich mich selbst aus den Zeitläuften nahm. Mein Leben umstülpte, die brave Tochter ablegte und dem Ruf nach einem Leben in der Kunst ein Echo in meinem Herzen gab. 

Ein Stein, perfekt geflitscht, bildet die Tritte auf dem Wasser, auf denen ich nun die Kette der Ereignisse zurückzulaufen, mich selbst zu betrachten vermag. 12 Titscher, mein Rekord.

Zwölf. Noch nie im Leben habe er auf dem Gesicht seines Vaters einen solchen Ausdruck gesehen, lacht der Sohn.

Elf. Ob sie sich setzen dürfe, fragt sie, sie kann kaum atmen vor Aufregung. Ich begreife erst jetzt, dass sie ihn wirklich gefunden hat, einfach so.

Zehn. Du hast dich ja auch nicht verändert, antwortet er.

Neun. Du hast mich sofort erkannt, sagt sie.

Acht. Sie liegen sich in den Armen, zwischen ihnen 26 Jahre, zusammengepresst auf ein paar Millimeter Stoff.

Sieben. Er tritt aus dem Zimmer und erstarrt, schreit sofort ihren Namen, sein Sohn lacht lauthals los.

Sechs. „Dad?“ ruft der Sohn. Da sei jemand für ihn.

Fünf. Joseph Jr. fragt sie nach ihrem Namen, doch sie schüttelt lächelnd den Kopf und legt den Finger auf den Mund. Er lächelt ebenfalls sofort, er fühlt, dass etwas Besonderes vor sich geht, führt sie herein.

Vier. Sie kann nicht anders, sie muss fragen, ob hier Joseph Adomako lebt. Sie weiß, dass auch er selbst so heißt, aber er begreift und sagt, ja, das sei sein Vater.

Drei. Der Sohn öffnet die Tür, sie erkennt ihn von den Fotos. Sie bringt nur ein „Hi“ heraus. Er sagt nicht etwa hallo, fragt nicht, wer sie sei oder ob er etwas für sie tun könne, er sagt als erstes: „Do you want to come in?“

Zwei. Auf der Fahrt fragt sie sich, weshalb sie eine halbe Stunde Hin-, eine halbe Stunde Rückfahrt verschwendet. Einkauf. Sport. Arbeit, Dienstreise. Urlaub, Umzug, Untervermietung. Es gibt etliche Gründe, weshalb sie gleich vor verschlossener Tür oder vor wildfremden Menschen stehen wird.

Eins. Sie nimmt das eine von drei Familienautos. „Das ist deins“, hat Manni gesagt. Das Navigationsgerät zeigt 34 Minuten Fahrzeit an. Tue ich das jetzt wirklich? Kopfschüttelnd schaut sie sich im Rückspiegel an.

Ich bin wieder ganz im Jetzt. Eine andere Frau hatte draußen wartend in einem Auto gesessen und mich unsicher zur Tür staksen sehen. Inzwischen hat auch sie geklingelt und sitzt, nun ihrerseits etwas verunsichert, mit in der Sofaecke. Hier soll nämlich gleich eine kleine Gemeindeversammlung stattfinden: Joseph ist Pastor.

Dhakira, Josephs Frau, die ich sogar noch aus der damaligen Zeit als seine Freundin kenne, ist nicht da, und zwei seiner Kinder auch nicht. Den anderen beiden, Faith und Joseph Jr. erzähle ich, wie wir 1993 in Stuttgart – ich besuchte ihn dort nur, unsere Studienwege hatten sich schon getrennt – angestarrt wurden, als wir zusammen durch die Straßen gingen. Da hatte ich ganz bewusst seine Hand genommen, und wir waren provozierend langsam durch die Straßen geschlendert wie ein Paar. Ja, rufen die Kinder aus, wir kennen diese Geschichte! Das hat er uns erzählt! Ihr wisst von mir, sage ich erstaunt. Of course! Kurz streift mich der Gedanke, dass ich meinen beiden Kindern nicht von ihm erzählt habe. 

Nun aber setzt er an. Er will der Frau aus der Gemeinde erklären, wer ich bin. Ich lausche gebannt. Wie würde ich einem Außenstehenden erzählen, wer er ist?  Als ich nach Trier kam, beginnt er, lebten wir in miserablen Verhältnissen. Wir waren eine ganze Gruppe Studenten aus Ghana, und es ging uns nicht gut dort. Sie war es, die mir und den anderen das Leben in Deutschland möglich gemacht hat, die dafür sorgte, dass wir uns willkommen fühlten. Dass es eine Art Zuhause wurde. Dann fügt er noch zwei Sätze auf Twi hinzu. Die Frau steht auf, umarmt mich und bedankt sich, während ich selbst vollkommen verwirrt bin, haltlos in Tränen ausbreche. Das habe ich getan? Ich wusste nichts davon. Wenn dir jemand die Augen öffnet, tut es meistens weh. Mein Herz krampft sich zusammen, zum Teil vor Glück, zum Teil beim Gedanken, was ich alles noch hätte tun können, wäre ich nicht so ahnungslos gewesen.

Ich hatte die Gruppe durch einen Kommilitonen kennengelernt, liebte es, mit ihnen zusammen zu sein, tanzte uneuropäisch hüftbetont mit ihnen, saugte begierig auf, was sie mir erzählten, lernte auf Twi zu sagen, wie ich heiße. „Me din de Akosua“, als Sonntagskind wäre das mein Name in Ghana, beim Händeschütteln schnipsten wir gegenseitig den Mittelfinger der Hand. Bis heute tue ich das manchmal beim Abschied, wenn ich auf der Straße angesprochen werde und erfahre, dass das Gegenüber aus Ghana stammt. Es kommt noch immer vor. Vielleicht macht es mein offenes Gesicht, vielleicht habe ich noch immer eine Aura nie ganz gestillter Ghanasehnsucht um mich. Ich greife dann beim Händedruck den anderen Mittelfinger, schnippse und freue mich diebisch darüber, wie sich die Augen der betreffenden Person weiten, während ich grinse und meiner Wege gehe.

Am liebsten neckte ich damals den einen oder anderen, indem ich ihnen von hinten unterhalb des Knöchels in den Fuß kniff. Bei allen funktionierte noch der Reflex: Der Unterschenkel schoss nach vorne, um einem Schlangenbiss zu entgehen.

Vor allem aber lernte ich Joseph kennen; die Erinnerung an die anderen ist verschwommen. Joseph wurde mein Freund, ein einzigartiger Freund in meinem Leben. Einer, mit dem ich nie Smalltalk machen musste, mit dem ich so verrückt sein durfte, wie ich damals war, mit dem ich über Themen sprach, die mit anderen gar nicht erst aufkamen. Dessen Lachen ich mir am liebsten in die Ohren implantieren wollte, wo ich es jederzeit würde abrufen können. 

Nach der Gemeindeversammlung gehen wir zu zweit essen. Erzähl es mir noch einmal, schüttelt Joseph den Kopf, wie kamst du darauf, nach mir zu suchen? Und warum bist du überhaupt hier?

Ich hole aus. Ich habe gerade viel hinter mir. Seit acht Jahren schon „Single Mom“, der Versuch, mit der Kunst zu überleben, immer wieder die Existenzangst. Zunehmende gesundheitliche Probleme. Ein Job, ein Hörsturz, ein Selbstmord in der Familie, eine Reha, ein kaputtes Knie, eine OP, Hartz IV, ein nicht enden wollender Kampf an einem 360°-Panorama von Fronten. Und dann: ein Facebook-Post für ausgewählte Freunde, in dem ich davon erzählte. Und die spontane Reaktion meines Schulfreundes Manni, der seit Jahrzehnten in den U.S.A., in North Carolina lebt: hör zu, du musst schreiben, du bist Schriftstellerin, ich lade dich ein, du kommst auf meine Kosten hierher nach Charlotte, dann erholst du dich hier und schreibst.

Seit Joseph mich 2013 auf Facebook wiedergefunden hatte, hatten wir kaum direkten Kontakt. Er, der ehemalige IT-Student, war Pastor, ich, die ehemalige Theologiestudentin, Schauspielerin geworden und nicht mehr in der Kirche, was ich ihm lieber gleich gebeichtet hatte. Die Bilder der Familie und aus der Gemeinde hatte ich zwar gesehen, aber wo er lebte, war gar nicht in meinem Kopf. Unbewusst hatte ich aufgrund von ein paar afrikanischen Trachten auf den Bildern angenommen, er sei wieder in Ghana. Warum habe ich vor zwei Tagen auf sein Profil geschaut? Ich kann mich nicht erinnern. Aber dort stand als Wohnort Monroe, NC. NC? North Carolina? Nicht im Ernst. Er lebt in dem Staat, in dem ich meinen Schulfreund gerade besuche?! Ich klickte auf den Ort und wurde auf eine Karte weitergeleitet. 

Zweimaliges Herauszoomen aus dem Ortskern von Monroe genügte, um zu sehen, dass das ein Vorort von Charlotte war. Ich schrie richtiggehend auf, so dass Mannis Frau besorgt um die Ecke kam, um mir zu helfen. Und sie konnte helfen: investiere doch ein paar Dollar in ein kurzes Premium-Abo der White Pages, dann siehst du seine Adressen. Es war fast zu einfach. Tatsächlich, da war sie, neben einigen anderen Wohnorten und juristischen und finanziellen Informationen, von denen ich gar nichts wissen wollte: eine Adresse gleich in Monroe. So nah! Keine halbe Stunde später hatte ich mich ins Auto gesetzt, mit diesen Koordinaten als Zieladresse, ohne auch nur eine Sekunde daran zu glauben, dass ich ihn wirklich dort antreffen würde. Dass ich wirklich nach 26 Jahren einfach in Josephs Haus spazieren und seinen Sohn ihn rufen lassen würde.

Wir sitzen im Restaurant, teilen Gerichte wie früher, lachen unser 26 Jahre altes Lachen, wir sehen uns unverändert, können keine Falten an dem anderen finden. 

Ja, ganz am Ende wird Joseph scharf einatmen und ein wenig entsetzt feststellen, dass wir jetzt nicht über Gott gesprochen haben, und ich werde gnickern, wie kann der Pastor nur Gott vergessen. 

Ich habe schließlich den Mut, das anzusprechen, was damals den Riss zwischen uns verursacht hat. Dass er beim Besuch in Stuttgart plötzlich mehr von mir wollte. Wir waren Hand in Hand durch die Stadt gelaufen, hatten uns anstarren lassen, hatten zuhause darüber gelacht, scheinbar unbekümmert. Mir kam die Idee, Fotos unserer beiden Hände zu machen; glücklicherweise fand ich bunt Fotografieren damals gerade kitschig und hatte den richtigen Film in der Kamera. Wir bestaunten die Schönheit unseres schwarz-weißen Farbenspiels. Die Sonne schien in sein Zimmer und auf unsere Hände, die wir übereinander spreizten, ineinander verschränkten. 

Da hielt er sie auch nach dem Foto fest, sanft und mit einem Mal verlegen.

Ich war wie vor den Kopf gestoßen. Wie konnte ich, er war schließlich mit Dhakira in Ghana zusammen! Ich hatte sie bei ihrem Deutschland-Besuch sogar kennengelernt, auch mit ihr getanzt. Wie konnte er!

Für mich war es damals eines von zahlreichen Erlebnissen mit Männern. Eine Hilflosigkeit hatte in mir immer weiter Raum gegriffen, weil so viele sich von mir angezogen fühlten, meine unbekümmerte Nähe, meine sorglosen Berührungen missverstanden. Immer wieder war ich in ähnliche Situationen geraten, fühlte mich schuldig und als Opfer zugleich. Doch bei niemandem tat es so weh wie bei Joseph. 

Brachte er diese Saite bei mir zum Klingen? Vielleicht. Da war eine Sehnsucht unter der Oberfläche der Leichtigkeit, da war eine Möglichkeit unter den vielen Schichten der Freundschaft. Vielleicht hätte ich es riskiert zu springen. Aber nicht auf diese Weise! Doch nicht aus einer zufälligen Berührung heraus, als Seitensprung, als Störfrequenz, doch nicht als Fehler!

Da öffnet er mir zum zweiten Mal die Augen. Erklärt, was er mir damals verschwiegen hatte, weil er die leicht naive Vorstellung hatte, ich müsse ihn wollen, ohne das alles zu wissen. Ich hat nicht die geringste Ahnung, was damals in Wirklichkeit vor sich gegangen war. Weil wir es und uns damals nicht aussprachen.

Der See.

Der Stein, die Tritte. 

Vorwärts in der Vergangenheit.

Der Weg, den wir nie gingen, sieben Titscher.

Eins. Sie sprechen sich aus. Er gesteht ihr, dass Dhakira und er gemerkt haben, dass sie ihre Fernbeziehung nicht mehr fortführen können. Dass sie sich sehr rational getrennt haben, ohne böse Gefühle.

Zwei. Sie springen. Sie lässt die Farben sich vermischen, sie lässt es geschehen, stillt eine Sehnsucht, die erst im Entstehen begriffen ist.

Drei. Sie versinken. Sind überwältigt von dem Neuen, was zwischen ihnen ist, müssen ihm einen Namen geben, aber sie finden keinen, denn sie haben sich ja schon geliebt.

Vier. Sie spricht es aus. Sie sagt ihm, dass er sie fast verloren hätte, weil er versucht hat sie zu verführen, ohne ihr von der Trennung zu erzählen.

Fünf. Sie driften. Er fragt sie, ob sie ihn heiraten wolle. Sie ist überfordert, ist viel zu jung, 22 Jahre. Er geht auf die 30 zu. 

Sechs. Er spricht es aus. Plötzlich versteht sie: für ihn war das nicht spontan. Er hat sie schon zuvor auf diese Art geliebt, er hat alles hineingeworfen in diesen Moment. Alle wissen Bescheid. Seine Familie, seine Freunde, sogar Dhakira. Für ihn steht die Existenz auf dem Spiel. Sagt sie ja, bleibt er in Deutschland, bei einem Nein geht er nach London.

Sieben. Sie schlingern. Ihre Familie hält die Hochzeit für eine große Dummheit, auch wenn ihre Mutter sich insgeheim auf milchkaffeebraune Enkel freut.

Wir vermögen es nicht weiterzudenken. Too many crossroads, zu viele Entscheidungen, potenzierte Möglichkeiten … wir lächeln, beide. 

London, neues Studium, zurück zu Dhakira, Job, Kinder, U.S.A., Pastor. 

Examen, finnischer See, Schauspielschule, Nomadenleben, Familie, Scheidung, Single Mom.

Wir liegen uns ein letztes Mal in den Armen, zwischen uns wenige Millimeter Stoff, die sich zu 26 Jahren entfalten. Niemals würden wir unsere Kinder sich auflösen lassen, sechs Existenzen auslöschen, Gelebtem entsagen, es denunzieren für das Aufheben eines Missverständnisses. Und wenn wir noch so nahe daran waren damals. So nah.

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