Vroni Kiefer

Ungehaltene Rede einer ungeborenen Tochter

Dieser Text war ein Beitrag zum Prosa-Wettbewerb der Gruppe 48 e.V. mit dem Thema „Passt Nicht!“ und wurde in die Anthologie aufgenommen.

Warum weinst du, Mutter? Wenn du weinst, senkt sich eine Schwere auf mich, die ich fürchte, nicht tragen zu können. Du warst so glücklich die letzten Monate … aber das mag daran gelegen haben, dass du mich nicht bemerkt hast. Dein Gehirn hat Hormone asschütten lassen, dein Blut Endorphine verteilt, als gäbe es kein Morgen. Und du dachtest, du seist verliebt, du dachtest, es sei der strahlende Frühling, der herrliche Sommer, du dachtest, es sei das Fortkommen in der Schwesternausbildung. Dabei war es dein Körper, der dich nur glücklich gemacht hat, um mir eine perfekte Versorgung zu schenken. Gern geschehen, Mutter.

Ich höre euch. Höre meine Großmutter schreien, keifen, höre die Ohrfeige. Höre dein Weinen, höre deine Worte, aber noch mehr deine Gedanken. Keine Chance hat dieses Kind, es wird nie eine Chance haben. Ich werde nichts bestimmen dürfen, denkst du, werde es vielleicht nicht einmal aufziehen dürfen, und wenn, dann wird es „die Kloane vom Flitscherl“ sein. 

Du hast es dir nicht ausgesucht, ins Deutschland der 50er geboren zu werden. Ich habe das Licht der Welt noch nicht erblickt, und doch wage ich die Aussage, ins Amerika der 70er Jahre hättest du besser gepasst. Mir scheint, durch meine Nabelschnur fließen widerspenstige, freigeistige Moleküle, auch wenn sie noch keine ganze Mahlzeit ergeben. 

Minderjährig schwanger zu werden im Bayern der 70er hättest du, wärest du gefragt worden, sicher dankend abgelehnt. Etwas Aufklärung wäre sicher hilfreich gewesen, um an dieser Entscheidung mehr als nur durch passives Nichtverhindern beteiligt zu sein. 

Ich habe mir auch nicht ausgesucht, mich ausgerechnet bei dir einzunisten! Zumindest bin ich mir dessen nicht bewusst. Sollte ich mich zuvor in einem Zustand des umfassenden Wissens und der freien Entscheidung befunden haben, so schwimme ich momentan, zumindest was meine Vergangenheit betrifft, in gnadenvoller Unwissenheit.

Doch fühle ich einen unbändigen Trieb zu leben! Und vielleicht hatte ich eine Ahnung, schon als kleiner Zellhaufen, dass ich mich besser so lange wie möglich verstecken sollte. Nun ist es heraus. 

„Die Suppn hast dir selbst eibrockt, etz löffelst’s au aus!“ Eisige letzte Worte, nun sind wir allein.

Was denkst du da? Du kannst mich nicht behalten? Lieber Gott, mach, dass es weggeht? Du willst nie wieder einen Mann anschauen, wenn Er dich erhört? 

Meine Fingerchen krümmen sich unwillkürlich. Willkommen in meinem Leben, graues Gefühl. Dich kannte ich noch nicht. 

Ich versuche dir einen Gedanken zu senden, Mutter, bevor das Grau sich so weit in mir ausbreitet, dass ich dir deinen Wunsch erfülle. Was genau hättest du davon, jetzt kein Kind zu bekommen, wenn du danach nie einen Mann haben dürftest? Mein Gedanke wird, zusammen mit dem Grau, von einer großen roten, bitteren Welle verdrängt. So schmeckt also Wut. Ich kann noch nicht sehen und weiß schon, was Rot ist. Sollte es mir gelingen, auf die Welt zu kommen, werde ich diese Farbe tunlichst vermeiden.

Nein! Nein, bitte, bitte, nein. Nein, Mutter, dieser Gedankenblitz ist unheilvoll, er wird alles verschmoren. Du kannst mich nicht mehr loswerden jetzt … das heißt, du könntest, aber, warte, schau: mein Gehirn ist schon groß, meine Nerven verbinden schon unzählige Synapsen, ich kann schon so Vieles hören! Gerade lutsche ich am Daumen, der bereits einen Nagel hat, und wenn der Stress gleich noch größer wird, könnte es sein, dass ich mein erstes Geschäft viel zu früh mache, jetzt und in mein eigenes Fruchtwasser.

Nun sprichst du laut mit dir selbst. „Was soll des für a Lebn werdn? Des werd’s doch net wert sein zu lebn. Na, am End werd’s zu mir sogn, warum host na du mi überhaupt zur Welt brocht?!“

Ich verstehe. Du siehst, welche Mühen vor dir liegen; drei Monate in anschwellender Beschwerlichkeit, Stunden um Stunden unerträglicher Schmerzen, die dein Körpergedächtnis zwar anschließend löscht, aber was hilft dir das im Augenblick, da sie dir noch bevorstehen? Eine Unterbrechung deiner Ausbildung, Tuscheln, Häme. Die Härte deiner Mutter, die herablassende Behandlung durch das Jugendamt, und das alles, nur um irgendwann vielleicht von deinem Kind zu hören: „Ich wünschte ich wäre nie geboren!“

Lass uns eine Zukunft für mich vor unseren Augen ausbreiten. Schonungslos. Realistisch. Vielleicht habe ich noch eine unbewusste Verbindung zu dem, was jenseits meines Fruchtwassers liegt, ich sehe Blitze eines möglichen Lebens. Ein schweres, ohne Zweifel.

Dass du mich nicht behalten kannst, ist sehr wahrscheinlich, auch wenn du nach der Geburt andere Gefühle für mich haben wirst als jetzt. Das Jugendamt wird mich dir also wegnehmen. Bei der Ziehmutter passiert vielleicht Dunkles, zu viele verlassene Kinder auf einem Haufen. Sie und der Vater, der ab und zu vorbeikommt, könnten der Nährboden für spätere Alpträume mit viel Schwarz sein.

Lass uns annehmen, dass sich eine Familie findet, die mich aufnimmt. Schlimme Dinge könnten geschehen. Dinge, die nicht nach außen dringen dürfen, weil der Schein gewahrt werden muss. Der Vater könnte Alkoholiker und Choleriker sein, die Mutter verstrickt in ihrer Rolle dazu. Ich könnte einen Bruder haben, der mich quält und eine Kindheitshölle für mich erschafft.

Es steht zu befürchten, dass ich die zerstörerischen Persönlichkeitsstrukturen von Vater und Bruder später unbewusst in Männern suche. So liegt es nahe, dass der erste Mann, mit dem ich schlafen werde, schlimme Psychospiele mit mir spielen wird. Vielleicht habe ich danach jahrelang eine unbezwingbare Panik, wenn ich z.B. ein Brotmesser sehe? 

Stellen wir uns weiter vor, dass ich, so unwahrscheinlich es klingt, trotzdem heiraten und Kinder bekommen werde. Wie hoch sind die Chancen, dass diese Ehe hält? Natürlich werde ich geschieden und Leid über meine eigenen Kinder bringen. 

Ich werde sicher genauso wenig wie du in ein bürgerliches Leben passen, werde nie genug Geld verdienen, nie materielle Sicherheit haben, immer um die Existenz kämpfen müssen. Das wird auch bei meinen Kindern Wirkung zeigen, wie sehr ich mich auch abmühe.

Vermutlich passt dazu, dass meine Gesundheit nicht die beste sein wird. Es ist nicht deine Schuld, du konntest ja nicht wissen, dass du in den letzten Monaten Alkohol und Zigaretten besser vermieden hättest. 

Wird es dir zu viel, wenn wir also eine Reihe von Krankheiten in dieses Leben packen? Ein paar einmalige, ein paar chronische, ein bisschen körperlich, ein bisschen psychisch. Der Bruder könnte schließlich Selbstmord begehen. Das würde sicher einen komplexen Schuldzustand bei mir auslösen, ihn mehrfach überlebt zu haben, einmal als Kind und einmal als Erwachsene.

Ich werde vermutlich noch gar nicht besonders alt sein, wenn ich zu meinem eigenen Erstaunen feststelle, dass ich schon gestorben bin. Ich werde über meinem Bett schweben und mich selbst anfahren, wieder aufzuwachen, aber es wird zu spät sein. Dass es ein schneller und schmerzloser Tod gewesen ist, ein Aneurysma, kann mich nicht trösten, bei dem Chaos, das ich hinterlasse. Ich werde nicht, wie ich es mir immer wieder vorgenommen habe, alles geordnet haben und vorbereitet gewesen sein.

Sieh dir dieses Leben an, Mutter. Ist es trostlos? Ist es schrecklich? Sollten wir es verhindern? Bist du im Recht, wenn du heute Gott spielst und zur Engelmacherin gehst? Ist es besser so, auch für mich?

Dein Atem wird ruhiger, das Rot wandelt sich in ein harmloses Rosa. Das Paradoxon des Furchtbaren, wenn wir ihm direkt ins Auge sehen, anstatt es nur in unserem Nacken zu spüren. 

Das Entscheidende ist, Mutter, dass Leben nicht so gelebt wird, wie ich es dir eben erzählt habe. Ein Leben wird nicht im großen Ganzen gelebt, sondern von Sekunde zu Sekunde. In wenigen Monaten wird mein Geist getrennt sein auch von dem Wissen, das ich jetzt noch habe. Ich werde dieses Leben gänzlich unbedarft betreten, nicht ahnen, was mich erwartet. Selbst wenn all das geschieht, was ich geschildert habe, werde ich es nach und nach erleben und nicht so empfinden. Ich werde staunen, glucksen, strahlen – und vor allem lernen. Ich werde trotz allem lernen zu lieben, ich werde Resilienz lernen, ja sogar Glücksfähigkeit. 

Ein Leben ist mehr als die Summe seines Unglücks, Mutter. 

Von den gut zwei Milliarden Sekunden, die mir auf der Erde zur Verfügung stehen werden, werde ich ungefähr 200 Millionen traurig, ängstlich, wütend, krank, alptraumgeplagt oder schmerzerfüllt verbringen. Stell dir all die Sekunden dazwischen vor! Ich werde unverbrüchliche Freundschaft erleben, Sprache und Sprachen lernen, werde auf Wiesen liegen, Düfte atmen und durch Astwerk in den Himmel schauen, Rhabarberkuchen essen, Tränen lachen, ein Neugeborenes im Arm halten. Ich werde meine Hand an ehrwürdige Steine legen und meine Wange an knorrige Bäume, Tiere werden meine Nähe suchen und Kinder mein Lächeln erwidern. Ich werde Zärtlichkeit erleben und Ekstase, werde im eiskalten Meer schwimmen und rohen Ingwer kauen. Ich werde in Spiel und Ernst gewinnen, unbekümmert tanzen, Ziele erreichen und bei alten Filmen weinen.

Ich werde Bücher lesen, die noch nicht geschrieben sind und Worte formen, die nur aus mir entstehen können. Meine schweren Sekunden werden in einzigartiger Weise Schönheit gebären und anderen Erleichterung in den ihren verschaffen.

Die guten Sekunden lassen sich nicht so leicht zusammenfassen wie die schlechten, sie müssen in ähnlicher Weise erzählt wie erlebt werden. Welche Spuren werden sie hinterlassen, und welche ich? Wie schnell wird alles, was ich berührt habe, dem Vergessen anheimgegeben sein? Das weiß ich nicht, Mutter. Ich weiß nur eines: wenn du mich ins Leben gelangen lässt, werde ich niemals daran denken, es selbst zu beenden, egal was mir zustößt. Ich werde jede Sekunde davon leben, ob sie mir passt oder nicht. Das verspreche ich dir.

Zur Übersicht

Anfragen, Anmerkungen, Allgemeines